ZWISCHEN ENTEIGNUNG UND ANEIGNUNG
VOM ÖFFENTLICHEN RAUM IM POSTSOZIALISMUS

REGINA BITTNER

Der Dessauer Marktplatz ist ein großer leerer Platz. Gerahmt von Bauten des Nationalen Traditionalismus führt die dreieckige Anlage direkt auf das Rathaus zu, eines der wenigen übrig gebliebenen historischen Gebäude im Zentrum der Stadt. Das große Loch auf der anderen Seite des Rathauses zwischen ‹Scheibe Nord› und ‹Scheibe Süd› konnte Mitte der 1990er Jahre mit einer Indoor Shopping-Mall, dem Rathauscenter, geschlossen werden. Kioske und unter Zeltdächern agierende Billigdiscounter hatten zuvor den Pionierkapitalismus Anfang der 90er Jahre genutzt, um hier das schnelle Geld beim Versorgen der Ostdeutschen mit den lang ersehnten Westwaren zu machen. Das Rathauscenter ist Symbol der Normalisierung und Institutionalisierung marktwirtschaftlicher Verhältnisse. Dazu gehört auch, dass es den Geschäften entlang des Marktplatzes seit der Eröffnung des Centers nicht mehr so gut geht, denn die Kaufkraft, über die Dessau noch verfügt, wird von ihm nun nahezu vollständig absorbiert. Natürlich gibt es am Samstag auch einen richtigen Markt, wo Vorruheständler aus ihren Kleingärten Obst und Gemüse anbieten, aber so richtiges Leben kommt auf dem Markt nicht mehr auf, während aus dem Inneren der Shopping- Mall zumindest am Samstag, wenn die Leute aus der Umgebung zum Einkaufsbummel in die Stadt kommen, ein Brummen zu vernehmen ist.

Dessau ist schon zum zweiten Mal zur ‹unzufriedensten Stadt› im wiedervereinigten Deutschland erkoren worden. Das liegt nicht nur am leeren Platz im Zentrum. Für den hat man inzwischen eine Lösung gefunden. Ein großer Brunnen mit Motiven aus dem Paradies soll bald die Mitte des Platzes zieren und so dem Raum wieder eine kulturelle Besetzung geben.

Der große leere Platz war für die Bevölkerung einschließlich ihres Bürgermeisters nicht aushaltbar. Ostdeutsche Städte hatten zuviel von dieser Leere, die deren BewohnerInnen fatal an die Paraden und Demonstrationsräume der DDR erinnerte. Repräsentative Räume, die immer auch mit einem Motiv des Stolzes auf das ‹Platz haben› verbunden waren, verkamen in den späten Jahren des Sozialismus mehr und mehr zu Brachen. Das öffentliche Leben fand in den Kleingärten, in den Betriebssportvereinen oder in den zu Partyräumen umgebauten Heizungskellern statt. Dessau erhielt nicht, was andere Städte in der DDR im Zuge des so genannten ‹Reurbanisierungsschubes› zu Beginn der 1980er Jahre zugedacht bekamen: einen Boulevard als Zeichen der ‹guten Versorgung der Bevölkerung› im Sozialismus. Die ideologische Feindfigur der bürgerlichen Stadt mit ihren überschaubaren Strukturen hielt sich in Industriestädten wie Dessau besonders hartnäckig. Und umso vehementer wird deshalb hier die Tatsache, erneut mit Leere konfrontiert zu werden, entweder als Ausdruck der Verwahrlosung oder aber eben als Wiederauflage des ‹repräsentativen Raumes› wahrgenommen.

Dennoch fragt man sich, warum dieser schöne große Platz nun nicht von allen möglichen Kleinunternehmern, Initiativen und Kreativen, die mit der Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse auch in Dessau hätten entstehen müssen, genutzt wird. Könnte mit der Wiederherstellung des Marktes nicht mehr intendiert gewesen sein: nämlich der Gedanke, über das ökonomische Modell freigesetzter Marktkräfte auch das alte, politische Modell der Marktplatz-Öffentlichkeit wiederzubeleben? Für diese Annahme gibt es Gründe: Die Marktplatz-Öffentlichkeit im Habermasschen Sinne galt als Raummodell der argumentativen Regelung der Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Vorstellung liegt das Modell einer Bürgerstadt zu Grunde, die vergleichsweise homogen war und die restriktiv Bürger vom Nicht-Bürger-Arbeiter, Frauen und Stadtarme unterschied. Aber mit den radikalen Veränderungen der städtischen Gesellschaft im Zuge von Freizeit, Konsum, Postindustrialisierung und Individualisierung transformierte sich der Marktplatz und das soziale Modell, das er repräsentiert. Städtische Öffentlichkeiten haben sich pluralisiert und fragmentiert, in Stadtteilparks, Tankstellen, Kiosken oder öffentlichen Freiflächen, die z.B. temporär von Skatern genutzt werden. Damit hat städtische Öffentlichkeit ihre Zentralität verloren, taucht auf und verschwindet und ist wohl eher in Metaphern von Netz oder Landschaft denn in der eines zentralen Marktes räumlich zu begreifen.1 Hinzu kommt, dass diese temporären Nutzungen weniger politische Artikulationen im Sinne des Aushandelns von Interessen sind, als vielmehr vor allem Aktivitäten der symbolischen Besetzung von Räumen. Es geht um Räume der Selbstdarstellung unterschiedlicher Gruppen, Stadt wird hier zur Bühne kultureller Darstellung von Gruppenidentitäten. Taugen diese generellen Bestandsaufnahmen zum Wandel des öffentlichen Raumes überhaupt für Ostdeutschland? Lassen sich diese Diagnosen – Auflösung der Zentralität, Verlandschaftlichung sowie Verschiebung vom politischen Raum der Artikulation zum kulturellen Raum der Repräsentation – auch auf ostdeutsche Städte anwenden?

Die Transformation der ostdeutschen Gesellschaft hin zum Kapitalismus westdeutscher Provenienz verlief parallel mit einem durch Globalisierung geprägten Strukturwandel des Städtischen. Den Stadtverwaltungen blieb vor diesem Hintergrund nicht viel Zeit und Geld, sich ums Gemeinwesen zu kümmern. Ihre Aufgabe bestand eher darin, sich selbst als Unternehmen fit zu machen, d.h. aus einem Ort einen Standort mit harten und weichen Faktoren zu machen, der sich international behaupten kann. Malls, Billigmärkte und Logistikcenter wuchsen nicht nur an den Rändern der Städte schneller als im Westen, auch fast jede größere Innenstadt konnte bald eine Einkaufspassage im Stil des Dessauer Rathauscenters vorweisen. Dass diese künstlichen Einkaufsund Erlebnisräume so schnell in ostdeutschen Städten Fuß fassen konnten, hat nicht nur mit den vorhandenen Leerflächen in der Innenstadt und dem Mangel an mittelständischen Fachgeschäften zu tun. Vielleicht haben die leeren repräsentativen Räume der sozialistischen Stadt einen ähnlichen Effekt wie die amerikanischen Suburban Cities: sie nähren die Sehnsucht nach vielgestaltigen komprimierten Räumen. Zumindest für die endlos ausgedehnten Metropolenregionen Amerikas hat Mark Gottdiener die These aufgestellt, dass hier, wo die Stadt als überschaubarer Raum mit seinen spezifischen sozialen Beziehungen vollkommen verschwunden ist, das Verlangen nach Intimität und Vorhersehbarkeit wächst.2 Vor diesem Hintergrund kann der freie Raum Marktplatz keine Aktivitäten generieren. Sogar die Vereine und Initiativen bevorzugen die Kooperation mit dem Center-Management, um in Ständen und Aktionen in der Mall auf sich aufmerksam zu machen. Die Idee, den alten Markt als neuen Freiraum im Sinne der Artikulation heterogener Praktiken unterschiedlicher Gruppen revitalisieren zu können, greift in Dessau nicht. Ähnlich anderen Mittelstädten gibt es temporäre Nutzungen von über die ganze Stadt verteilten öffentlichen Orten, die Identifikation von öffentlichen Räumen mit besonderen physischen Räumen wie dem Marktplatz löst sich hingegen auf. 3

Vor dem Rathauscenter steht eine riesige Glocke, die, gegossen aus den Waffen von NVA und GST4, an die friedliche Revolution von 1989 erinnern soll. Vielleicht zählen die Oktober- und Novemberdemonstrationen 1989 zu den wenigen Momenten, die dem Marktplatz erneut politische Bedeutung zugewiesen haben, folgt man der Habermasschen Definition weiter. Die öffentliche Aushandlung von das Gemeinwesen betreffenden Angelegenheiten ist allerdings eine eher schwierige Angelegenheit in Zeiten, in denen Privatisierung mehr ist als die Rückführung von Eigentum an ihre ehemaligen Besitzer und die Auflösung volkseigener Betriebe. Privatisierung meint eine Ideologie, die den Transformationsprozess der Gesellschaften in ganz Osteuropa bestimmte. Vor diesem Hintergrund musste ‹jeder seines eigenen Glückes Schmied› werden, nur dass dabei die einen eben mehr Glück hatten als die anderen. Die Rede von ‹Gewinnern› und ‹Verlierern› kursierte in Ostdeutschland schon bevor der bundesdeutsche politische Diskurs diese semantischen Figuren anstelle von bisher gebräuchlichen wie ‹Einkommensschwache› oder ›benachteiligte Bevölkerungsgruppen› setzte. Basierte die frühere Begrifflichkeit auf einem Selbstverständnis einer Leistungsgesellschaft mit veränderbaren Maßstäben der Statusverteilung, so verweist die aktuelle ‹Gewinner-Verlierer›-Semantik auf ein symbolisches Nullsummenspiel. Zu dessen Wesen gehört es, so Sighard Neckel, als Verlierer ausscheiden zu müssen: «die Zugehörigkeit endet beim Misserfolg, der ebenso persönlich zu verantworten wie sozial ausschließend ist» .5 Privatisierung im Zuge des Zusammenbruchs des ‹Iron Curtain› findet vor dem Hintergrund der Hinterlassenschaft eines, wie es Boris Groys nennt, «riesigen Imperiums kollektiver Gefühle statt, die zwecks der Herstellung einer individuellen kapitalistischen Seele zur privaten Aneignung freigegeben werden ».6 Leere Räume symbolisieren in diesem Zusammenhang mehr als ihre bloße physische Präsenz: sie sprechen vom ideologischen Vakuum, das nach der Wiedervereinigung entstanden ist.

Natürlich findet man auch auf dem Dessauer Marktplatz an Sommerabenden ein paar Leute in den Bierkneipen und Cafés, die ihre Gastronomie auf den Platz ausgedehnt haben. Aber die Suche nach neuen symbolischen Besetzungen, z.B. in Gestalt eines Brunnens mit ideologisch unverfänglichem ‹Adam und Eva›-Motiv, verweist auf eine Lücke in den Repräsentationen des Raumes, die auch das lebendigste Straßenleben nicht zu füllen vermag. Schnell drängt sich hier der Vergleich zur Errichtung des Denkmals von Peter I. in Moskau auf, das sich hinsichtlich seiner Formensprache nicht allzu sehr von den vorherigen Leninmonumenten unterscheidet. Auch hier war die symbolische Leere unaushaltbar. Während in Russland gerne auf die Zeit vor der Oktoberrevolution zurückgegriffen wird, um an eine eigene russische Traditionslinie des Kapitalismus anzuknüpfen, die zumindest symbolisch die 70 Jahre Sowjetmacht zum Verschwinden bringen soll, sucht Dessau seine kollektive Geschichte im Fürstentum. Im Streit um das Brunnenmotiv war viel vom anhaltischen Adelshaus die Rede. Und zum ersten Leopoldsfest im Juli 2004 wurden die Nachfahren der anhaltischen Aristokratie im Rathaus hofiert. Rückt das Nationale, Ethnische, Lokale nun in ideologische Positionen ein, die zuvor von kommunistischen und sozialistischen Ideen besetzt waren?

Wolfgang Kaschuba hat auf den Unterschied zwischen dem eher politisch operierenden alten Nationalismus, der auf Staat, Recht und «verwandte Lebensführung» setzte, und der gegenwärtigen Neukonstruktion des Nationalen, als kulturellem Integrationskonzept hingewiesen. Vor dem Hintergrund wachsender gesellschaftlicher Unsicherheiten und Instabilitäten kommt dem Nationalen die Funktion der Sicherung eines neuen Gemeinschaftsbewusstseins zu. Insbesondere in Umbruchphasen bietet die Rückbesinnung auf die nationale Begründung von Gemeinschaft die Chance, gefährdete Identitäten zu stabilisieren. Soziale Ungleichheit wird dabei umgedeutet in kulturelle Differenz: anstelle des Oben und Unten wird eher zwischen drinnen und draußen unterschieden: zwischen «einem von hier» oder eben einem Zugezogenen. 7

Auch auf ostdeutsche Städte trifft also jener Bedeutungswandel des öffentlichen Raumes vom politischen Raum der Artikulation zum kulturellen Raum der Repräsentation zu. Und nicht nur in ostdeutschen Städten stellt lokale Geschichte und Kultur das notwendige symbolische Material dazu zur Verfügung. Nur mit dem Unterschied, dass den Symbolen, die hier auftauchen, in ihrem postsozialistischen Kontext eine ganz andere Bedeutung zukommt als den Fürstenstatuen in Braunschweig oder Wolfenbüttel. Bleibt dennoch die Frage, warum nicht die Glocke von 1989 die symbolische Lücke schließen konnte. Vielleicht hat es mit dieser den Alltag so durchdringenden Erfahrung der Privatisierung in Ostdeutschland wie überall in Osteuropa zu tun, dass jede Erneuerung des «kollektivierten seelischen Territoriums», wie es Boris Groys nennt, gründlich desavouiert ist. Da sind die Fürsten wesentlich unverfänglicher. ‹‹‹


1 Wolfgang Kaschuba ‹Repräsentation im öffentlichen Raum›, in: Wolkenkuckucksheim Der öffentliche Raum in Zeiten der Schrumpfung, 8. Jahrgang Heft 1 September 2003 –––

2 Mark Gottdiener: Postmodern Semiotics. Material Culture and the Forms of Postmodern Life, Oxford 1995, S.89 –––

3 Vgl. Maarten Hajer Arnold Reijdorp: In Search of New Public Domain, Rotterdam 2001 –––

4 NVA Nationale Volksarmee; GST Gesellschaft für Sport und Technik –––

5 Sighard Neckel ‹Kampf um Zugehörigkeit›, In: Leviathan, Juni 2003, S.166 –––

6 Boris Groys ‹Privatisierungen oder künstliche Paradiese des Postkommunismus›, in: Boris Groys: Privatisierungen. Zeitgenössische Kunst aus Osteuropa, Frankfurt/Main 2004, S.9 –––

7 Wolfgang Kaschuba ‹Geschichtspolitik und Identitätspolitik›, in: Beate Binder, Peter Niedermüller, Wolfgang Kaschuba: Inszenierungen des Nationalen, Wien 2001, S.20f.


zum Seitenanfang
zurück zu Downloads und Links