SOLCHE ANSICHTEN VERFEHLEN DAS ENTSCHEIDENDE…
DAS DILEMMA DER WISSENSBASIERTEN ÖKONOMIE UND IHRER GEGENSPIELER

MARION VON OSTEN

1. Dass Wissen ein Allgemeingut ist und seine Produktion und Distribution nicht einer bestimmten Gruppe oder einem einzelnen Individuum und deren/dessen Interessen gehören dürfen, scheint durch die neoliberale Bildungspolitik und Intellectual Property- Debatte zunehmend in Bedrängnis zu geraten. Versuche, den Zugang zu Wissen zu demokratisieren, etwa von der sozialistischen Volkshaus- und Arbeiterklub- Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, scheinen in Zeiten der Ökonomisierung und Patentierung von Wissen sowie der Privatisierung und Standardisierung der Bildung, in Diskussionen über Elite-Universitäten und Kopierkriminalisierung zum historischen Ausnahmefall zu geraten. Wissen wird heute auf der Grundlage von Eigentumsrechten auf nationaler und suprastaatlicher Ebene als eine zukunftsträchtige Ware verhandelt. Das Wirtschaftsgut Wissen braucht nach Yann Moulier Boutang zwei Eigenschaften, um als Ware etabliert zu werden: das Ausschließlichkeitsprinzip und das Prinzip der Rivalität der Verwendung: «Ausschließlichkeit bedeutet, daß die Zugehörigkeit zu einem Eigentümer alle anderen an der Nutzung der Rechte an diesem Wirtschaftsgut hindert. Die Rivalität in der Verwendung bedeutet, daß sie nicht mit einer anderen Verwendung vereinbar ist.» (Moulier Boutang, 2003 , S. 275)

Weil aber auch die Ware Wissen auf Kooperation und Kommunikation basiert – sie erhält im eigentlichen Sinne erst dann einen Wert, wenn sie genutzt wird –, gerät das neoliberale Paradigma in ein Dilemma, da es einerseits die eingeschränkte Nutzung vorsieht, andererseits den Konsum der Ware benötigt, um einen Wert zu generieren. Der Gebrauchswert des Wissens ist aber durch seine immaterielle Form – auch als Ware – nie vollständig kontrollierbar oder messbar. Dies zeigen die unzähligen Beispiele der ‹illegalen› Software- und Datennutzung, der alternativen Informationskanäle, Anti- Globalisierungs-Newsgroups und MPG-Downloads. Das neoliberale Paradigma gerät in Schwierigkeiten, denn der kontrollierte Zugang zu Wissensgütern und Informationen schafft nicht nur ein neues globales Machtgefälles, neue Widerstände und subversive Praktiken, sondern ist zunehmend selbst auf Wissenspraktiken und Aneignungsformen angewiesen, die eben gerade nicht institutionell hergestellt oder verwaltet werden können, die gleichzeitig aber auch nicht gefördert oder finanziert sind, sondern sich dadurch auszeichnen, dass sie sich selbst organisieren.1 Der vielbeschworene Markt der neoklassischen Theorie erweist sich so als prekär, um die notwendigen Ressourcen zur Produktion von Wissen zur Verfügung zu stellen, die er für seine Wettbewerbsfähigkeit wiederum braucht. Die Tatsache, dass die bestehende o.g. Eigentumslogik, mit welcher Wissen zur Ware wird, der ‹Innovation› gleichzeitig hinderlich ist, stellt hier einen Grundwiderspruch der aktuellen Intellectual Property-Debatte dar. Privates Eigentum zu schützen war zwar für kapitalistische Gesellschaften immer schon ein Problem, für die Ware Wissen wird der Eigentumsschutz nun zu einem unauflösbaren und, vor allem, angreifbaren Paradox.

Parallel zum weltweiten Widerstand gegen die Ökonomisierung des Wissens wird gleichzeitig die radikalste Bildungsreform seit der Einführung der Schulpflicht in Europa durchgesetzt. Die Wissensproduktion und Distribution wird an den Bildungsinstituten durch den Bologna-Entscheid 2 neu geordnet, der bürokratische Apparat und neue Kontrollstrukturen (Qualitätsmanagement etc.) werden ausgebaut, die WissensarbeiterInnen dabei zunehmend prekarisiert und die Studierenden in neue Zeit- und Effizienzlogiken gedrängt. Das heißt z.B., dass Institute an öffentlichen Universitäten ihre Arbeit komplett durch Drittmittel selbst organisieren und finanzieren müssen, während gleichzeitig Erfolgsbilanzen in Hochglanzbroschüren gedruckt, Elitestudiengänge eingerichtet und neue MitarbeiterInnen eingestellt werden, die den Reformkurs zur Standardisierung der Wissensvermittlung durchsetzen, dass Lehrpersonen entlassen werden und die Studienzeit gekürzt wird. Das Studium wird so in seinem buchstäblichen Sinne abgeschafft, bestimmte Bereiche des Lernens und der Wissensproduktion outgesourct.3

Das Spannungsfeld zwischen Eigentumsrechten und Allgemeingütern stellt so nicht nur für die neoliberale Argumentation oder für unsere eigenen Arbeits- und Lebensweisen einen Konflikt dar, sondern auch für die Wissensproduktion an den klassischen Bildungsinstitutionen selbst. Dieser Konflikt spitzt sich unter den neuen Bedingungen einer wissensbasierten Ökonomie mehr und mehr zu. Denn was die neoliberalen WissensmanagerInnen und Bildungstechnokraten heute gegen den Widerstand der Studierenden und Lehrenden durchzusetzen versuchen, beruht auf der Annahme, dass Wissen einerseits fabrikmässig produziert werden könne und daher auch beschleunigbar und optimierbar sei und andererseits der Zugang zu Wissen durch Patentierung und Monetarisierung im kapitalistischen Sinne steuerbar sei und ausschließlich an einen konkreten Nutzen gekoppelt werden könne.

2. Die Produktion und Distribution von Wissen ist aber nicht erst seit heute ambivalent und umkämpft, sondern mit der Klassenfrage, dem Zugang zu Bildung und Ausschlüssen aufgrund von ‹Rasse› oder Geschlecht eng verkoppelt. Die Volkshaus- und Arbeiterklub- Bewegung in Deutschland hat es sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner sozialistischen Prägung zur Aufgabe gemacht, den Zugang zu den bürgerlichen Wissensressourcen sicherzustellen. Das sozialistische Volksbildungsideal, den ‹Massen› alles, was bisher an Kultur geschaffen worden ist, zur Verfügung zu stellen, um die «leibliche, geistige und sittlichen Volksbildung» zu heben, bezeichnete für Herbert Marcuse nichts weiter, als diese ‹Massen› für jene gesellschaftliche Ordnung zu erobern, die es gerade zu bekämpfen gelte. Die Demokratisierung des Zugangs zum bestehenden bürgerlichen Wissenskomplex verfehle das Entscheidende: «die Aufhebung dieser Kultur».4

In den Kämpfen um 1968 in Westeuropa und den USA wurden, vor dem Hintergrund der Politik des Kalten Krieges und der postkolonialen Befreiungskämpfe, die eurozentrischen Wissenskulturen und ihre Ordnungssysteme radikal in Frage gestellt. Die Forderung nach einer eigenen Wissensproduktion erweitert und kritisiert das ‹Bereitstellungskonzept› und verweist auf eine grundlegende Kritik an einer institutionalisierten Demokratiekonzeption selbst: Die Bildungsanstalten haben seit dem 18. Jahrhundert in Europa (und somit auch in den Kolonien) eine Definitionsmacht über relevantes Wissen behaupten können und in den jeweiligen Gesellschaften eine Ordnung von notwendigem und nicht notwendigem Wissen etabliert. Wissen, das außerhalb der Akademia, jenseits der Disziplinen entstanden ist, indigenes, widerständiges oder im Alltag erzeugtes, war bestenfalls Ressource für den bürgerlichen Wissensbetrieb und seine professoralen Autorenschaften. So hat sich in den Natur- und Geisteswissenschaften ein Autorsystem durchgesetzt. Es ist aber auch eindeutig, dass jede ‹Erfindung›, Entdeckung oder Erkenntnis auf den Forschungen und Einsichten vieler beruht. Obgleich die kollektive und sozial vielfältige Natur nahezu jeden Wissens auf der Hand liegt, wurden im Westen weder alternative und gemeinschaftlich organisierte Formen der Wissensproduktion finanziell gefördert noch erhielten diese in der Universität einen entsprechenden Status.

Die Kämpfe von 1968 reklamierten daher nicht einfach den besseren Zugriff auf bestehendes Wissen, sondern auch kolletive Formen der Wissensproduktion, an denen nicht nur Studierende der Oberschichten, sondern die gesamte Bevölkerung teilhaben sollte/n, um ein ‹neues Wissen› generieren zu können, in dem auch die Machtstrukturen der traditionellen Ordnung des Wissens sichtbar gemacht würden. Statt also die «Umwandlung der Erde in eine riesige Volksbildungsanstalt» zu verfolgen, wurde eine Kultur des gemeinschaftlich hergestellten Wissens betont, das auch von den Marginalisierten hervorgebracht wird. Gleichzeitig wurden kollektive und selbstorganisierte Formen des Lebens und Arbeitens ausprobiert, welche die Trennung von Handund Kopfarbeit, von Produktion und Reproduktion kritisierten und dieser im Alltag begegnen wollten. Wissensproduktion konnte fortan nicht mehr nur als universitärer Spezialfall diskutiert werden, sondern auch als Sprech- und Selbstbehauptungsakt jenseits der ‹ideologischen Staatsapparate›. Diese Perspektive ist in den Forschungen der Birmingham School (CCCS) zu finden wie auch in den Kulturwissenschaften der DDR zur Arbeiter- und Alltagskultur.

Studien zu Subkulturen, Gegenöffentlichkeiten und zu sozialen Bewegungen gehören heute (wie etwa die Cultural- und Gender Studies) zum universitären Apparat. Sie werden in Zeiten der neoliberalen Bildungsreformen – in eigentümlicher Parallelität – an europäischen Hochschulen mehr und mehr als Zusatzqualifikationstudiengänge eingerichtet. Die Inklusion vormals delegitimierter Wissensproduktion verläuft aber nicht ohne Kritik. Die USamerikanische Theoretikerin Michele Wallace forderte bereits 1990 in der Konferenz ‹Cultural Studies: Now and in the Future›, dass auch zeitgenössische kulturelle ProduzentInnen, die mit den Konflikten von Hochkultur in den verschiedenen Institutionen oder mit Popkulturen und deren zunehmender Marktorientierung zu kämpfen haben, an den akademischen Diskursen und ihren Praktiken beteiligt sein müssten.

Diese Position propagiert eine Politik der Annäherungen zwischen universitär produziertem Wissen und sozialen, kulturellen und politischen Akteuren, statt (sub)kulturelle Praktiken in spekulativer Weise als Formeln für die Theoretisierung zu verwenden. Die transgressiven, außer-institutionellen Wissenspraxen und die Forschenden und Erforschten sollen in eine neue Relation gebracht werden, welche die Involvierung in Machtbeziehungen ebenso reflektiert wie auch die Teilhabe an kulturellen und politischen Emanzipationsbewegungen. Auch die Kritik an der Objektivierung des Forschungsgegenstandes oder die Annahme einer Dichotomie zwischen universitärem Wissen und politischer Praxis wie auch die Forderung nach Inklusion der erforschten Akteure verfehlt das Entscheidende: den transdisziplinären, sozialen und kollektiven Charakter der Wissensproduktion auf und neben dem Campus. Denn die ‹Erforschten› haben längst selbst relevantes Wissen produziert und entstammen zu Teilen ebenso dem Universitätsapparat, haben aber eine andere Laufbahn gewählt, da ‹ihre› Themen an der Akademia nicht diskutiert wurden oder nicht unter den Bedingungen ihrer sozialen Hervorbringung, in ihren Konsequenzen im Alltag oder einer politischen Praxis reflektiert wurden. Zudem haben soziale Bewegungen – wie der Feminismus, die afroamerikanische Befreiungsbewegung oder die Queer Culture – neue Wissenskontexte und eigene theoretisch relevante und sozial aktive Diskurse geschaffen. Die Inklusion politischer und populärer Debatten und Akteure in die Akademia ist so nur eine von vielen Antworten auf die Frage, wer im herrschenden institutionellen Paradigma an welcher Wissensproduktion wie beteiligt ist, unter welchen Bedingungen und mit welchen Ressourcen.5 Zudem erscheint der Brückenschlag zwischen (Sub-)Kulturen und Wissenschaft weiterhin davon auszugehen, dass auf der einen Seite geforscht und auf der anderen Seite vor allem gehandelt (also Politik oder Kultur ‹gemacht›) werde, ohne die eigene universitäre Praxis auch als einen Handlungsraum zu begreifen.

3. Deleuze und Guattari haben mit dem Begriff der ‹Pluralität der Intelligenzen› eine Vielheit der Wissensformen als relevant bezeichnet und diese der kartesianischen Binarität vom Denken oder Handeln gegenübergestellt. Diesem Ansatz liegt die Vorstellung zu Grunde, dass Wissen sich spezifisch, aber auch generell herstellt, darstellt und vermittelt – in affektiven, symbolischen, sozialen und handlungsorientierten Formen und nicht nur in wissenschaftlichen Systemen. Der traditionelle Wissensbegriff der Universitäten wurde als ein weitgehend reduktionistischer verstanden. Nicht unwichtig, ist dabei Deleuze/Guattaris Bezug zur Kunstproduktion, die unterschiedliche kognitive, technische und sensorische Fähigkeiten beinhaltet und daher einen ganz besonderen Modus der Wissensproduktion darstellt.

Die Kunstwissenschaftlerin Irit Rogoff nimmt an, dass zeitgenössische Kunst und visuelle Kultur längst nicht mehr ein bereits existierendes Wissen durch andere Mittel bereitstellt, illustriert, analysiert oder übersetzt. Vielmehr stelle Kunst heutzutage sowohl einen genuinen Forschungsmodus als auch ein Mittel der Wissensproduktion per sedar.6 So hat sich über die relevanten Formen der Institutionskritik hinaus gerade im Feld der Kunst- und Kulturproduktion eine neue Perspektive auf soziale, kollektive und transdisziplinäre Verfahrensweisen entwickelt, die auch für die der ‹Halle School of Common Property› der 6. Werkleitz Biennale Beteiligten eine Referenz darstellt.

Gleichwohl Rogoffs Annahme einen wesentlichen Kern der neuen kulturellen Produktionsform beschreibt, ist sie zu generell, da sie den eigentlichen Zusammenhang dieser Entwicklung zugleich verschleiert. Denn der Paradigmenwechsel hat sich nicht einfach innerhalb der Kunst ereignet, sondern vollzog sich im Dialog mit sozialen Bewegungen, Sub- und Populärkulturen wie auch entsprechenden theoretischen Debatten. Schließlich ist "Kunst" selbst ein uneinheitlicher Produktionsmodus, der vom einzelkünstlerischen Werk über die Kollaboration von KünstlerInnen bis zu der Zusammenarbeit von Personen aus verschiedensten Wissensgebieten reichen kann. Darüber hinaus sind nicht alle Akteure, die sich an der Repräsentation beteiligen, gesellschaftlich gleichgestellt bzw. repräsentiert. Denn selbst wenn kulturelle Wissensproduktion kollektiv und sozial generiert wird, wird sie traditionalistisch über die Figur der EinzelautorIn vermittelt. Im Schatten dieser Figur hat sich in den letzten 30 Jahren eine Praxis der Kollaboration etabliert, die sich in Form von transdisziplinären temporären Zusammenschlüssen und selbstorganisierten ‹Projekten› zwischen Theoriearbeit und künstlerischer, filmischer sowie kuratorischer und aktivistischer Praxis äußert.

Paradigmatische Projekte wie die New Yorker Ausstellung ‹If you lived here› in der Dia Arts Foundation (1989) öffneten die Galerie für Debatten, Themen und Gruppen, die vormals keinen Zugang hatten, und involvierten diese in eine gemeinsame inhaltliche Gestaltung.7

Das Potential des alternativen Gebrauchs des Kunstraums liegt dabei in der Herkunftsgeschichte der Institution selbst: es werden nicht kritische Themen wahllos in den Kunstraum oder die Galerie hineingetragen, sondern es ist sein konstituierender Charakter für eine bestimmte Form von Wissen und Subjektivität (etwa sein androzentrisches Autorprinzip), in den die kritische Praxis interveniert. Das Öffnen des Kunstraumes für andere gesellschaftliche Gruppen und das Miteinbeziehen verschiedenster kulturell, politisch und wissenschaftlich engagierter Akteure verschiebt aber nicht nur die Hierarchie von Disziplinen, sondern ermöglicht neue Verfahrensweisen in der Wissensproduktion, die seit den 1970er Jahren vor allem in feministischen Kunstprojekten erprobt wurden. Die Praxis greift Forderungen gendertheoretischer Debatten auf, die die Etablierung und Ermächtigung nicht heteronormativ angelegter Subjektpositionen fordern, wie auch Fragen nach Produktionsverhältnissen und kollektiver Autorschaft. Dabei wird sowohl der ‹White Cube› und sein artifizieller sowie teilöffentlicher Charakter als auch die Objektivität legitimen Wissens in der Arbeit am Gegenstand umgedeutet und in Frage gestellt. So wird keine Illustration, kein Nachvollzug von bestehendem Wissen zelebriert, sondern es werden eigene Thesen, Methoden und Formate in einer Art angewandten Theorie und Praxis entwickelt. Die alternative Nutzung kanonisierter Räume für Debatten, Treffen, Workshops, Filmprogramme, Community Projekte durch KünstlerInnengruppen, linke, antirassistische und feministische Kollektive und die Konsument- Innen sind im Schatten bürgerlichen Öffentlichkeiten aktiv geworden und können im Sinne Michel de Certeaus als Versuch angesehen werden, hegemoniale Strukturen anzueignen und umzudeuten – mit dem Wissen, dass sie nicht einfach «verschwinden». Eine entsprechende transgressive und hybride Theorie-Praxis im akademischen Feld, ausgestattet mit den entsprechenden Ressourcen, ist bislang die Ausnahme.8

Der Umbau und die Privatisierung des Bildungssystems wie auch die Vorstellung von einem Wirtschaftsgut Wissen, einer sog. ‹knowledge based economy›, verkennen im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen im kulturellen und aktivistischen Feld die transgressive Dynamik, die jedem Wissen eigen ist – sei es elitär, indigen oder populär: Es verändert und verbreitet sich durch die Lesarten im Alltag, durch die mündliche Übertragung, populäre Aneignung oder mediale Umdeutung. Es verändert sich durch Missbrauch und Interpretation als Gerücht oder Lüge. In der Kontextualisierung und in der Indigenisierung verschiebt sich zunehmend seine Bedeutung. Wissenspraktiken also, die der Leserschaft gehören, und nicht den AutorInnen und den VerwalterInnen von Verwertungsrechten, produzieren täglich neues Wissen, das an soziale Verhältnisse geknüpft ist und neue Sozialitäten hervorbringt. Diese weltweit und vielfach lokal praktizierten Formen von Wissen waren wahrscheinlich die innovativsten Langstreckenläufer in der Geschichte der Wissensproduktion. Die mit eben solchen Wissensformen in einer spezifischen Relation stehende Fixierung auf AutorInnenschaft, Notation, Verwaltung sowie monetäre Profitabilität von Wissen birgt dagegen gewalttätige Schattenseiten, die das neoliberale Regime der Gegenwart keineswegs aufzulösen gewillt ist. <<<


1 Am Beispiel des viel zitierten ‹Neem-Baums›, sind die Perspektive und die Folgen einer Patentierung nachvollziehbar. Seit Jahrhunderten haben Bauern in Indien die Samen des Neem-Baumes vermehrt und auf ihren Feldern angepflanzt. Der Baum hat eine antitoxische und insektenabweisende Wirkung, die für andere Pflanzen nicht schädlich ist. Die Pflanze wird aber auch als Baustoff, Tierfutter usw. verwertet. Hätte 1985 die W.R. Grace and Company, ein multinationaler Chemiekonzern, die Pflanze patentieren lassen können, wäre ihr nur noch ein einziger Gebrauchszweck zugekommen, was die lokale, freie und multifunktionale Nutzung der Pflanze verhindert und somit eine ganze Kette von massiven Problemen ausgelöst hätte.

2 Das Treffen von EU-BildungsministerInnen 1999 in Bologna entschied neue europäische Standards für die Hochschulausbildung und forderte ein «effektiveres » Studium an Universitäten. Hintergrund dieser Wende ist einerseits die Konstitution der Europäischen Union und die damit einhergehende Standardisierung von Abschlüssen sowie die dominante Rolle von Lernprozessen bei der Differenzierung der Märkte und der globalen Konkurrenz.

3 Private Anbieter haben sich auf dem Lernmarkt heute etabliert. Sie verkaufen Lerneinheiten und Trainings für alle Altersgruppen und Lebenssituationen, die von Informatikkursen und Sprachreisen über Esoterikseminare bis zu Kreativitätstrainings reichen. Die Forderung nach gleichen Chancen für alle sowie die – aus der Reformbewegung stammende – Bemühung, die ganze Persönlichkeit ‹zu entwickeln›, wird ersetzt durch ein auf persönliche Bedürfnisse zugeschnittenes Lernpaket, das in kurzer Zeit absolviert werden kann und nur noch denen zukommt, die es sich leisten können.

4 Herbert Marcuse: ‹Über den affirmativen Charakter der Kultur› (1937), in: Schriften, Frankfurt/M., Band 3, 1979, S. 186 - 226.

5 Die derzeitige europäische Bildungspolitik fördert das Gegenteil, denn: Weder garantiert sie das notwendige Wissen, das auf den neuen flexibilisierten Arbeitsmärkten benötigt wird, sondern privatisiert es in oftmals zweifelhaften Weiterbildungsangeboten. Noch stellt sie Zeit und Ressourcen zur Verfügung, die wir benötigten, um soziale und kommunikative Fähigkeiten zu entwickeln, die heute als Qualifikation gelten. Die ‹knowledge based economy› korumptiert parasitär Leben und die soziale Interaktion.

6 Irit Rogoff, ‹Engendering Terror in: Ursula Biemann: Geografie und die Politik der Mobilität, Wien 2002, S. 33.

7 Die Ausstellung ‹If you lived here› wurde von der US-amerikanischen Künstlerin Martha Rosler initiiert und organisiert. Sie kann als paradigmatisches Beispiel einer sozialräumlichen, künstlerischen Wissens- Praxis gelten. Die Künstlerin, in deren Arbeiten das Verhältnis von Öffentlichkeit/Privatheit sowie Darstellung und Repräsentierbarkeit ein zentrales Thema war, setzte sich in der Ausstellung mit Gentrifizierung und Obdachlosigkeit auseinander. Der Ausstellungsraum befand sich in einer Gegend Manhattans, in der die Aufwertung des Quartiers mit der massiven Vertreibung sozial Schwacher einherging. Das Projekt adressierte das Quartier selbst und suchte mit den Mitteln der Ausstellung eine lokale Intervention in einen gesellschaftlichen Prozess. Auch dem Publikum kam eine neue Rolle zu, denn es wurde in diesen Prozess in verschiedensten Veranstaltungen involviert, sei es als der neue Mittelstand, der in dieses Viertel einzuziehen versuchte oder als KünstlerInnen, die dort ein Atelier hatten und sich zu den sozialen Konflikten verhalten mussten. Rosler nutze die Galerie nicht, um neue Repräsentationen von Obdachlosigkeit zu produzieren, sondern öffnete den Raum für Selbsthilfegruppen, kritische StadtplanerInnen und künstlerische Projekte, die in die Politik und Produktion von ‹homelessness› intervenierten.

8 Siehe hier Projekte wie etwa den Kunstraum Lüneburg, die ‹Critical Studies› an der Malmöer Kunstakademie, den Projektbereich D/O/C/K an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig oder auch das Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst (ith) in Zürich. Es ist sicher kein Zufall, dass Aktivitäten, die Forschung und Kunstproduktion zusammendenken, sich vor allem an Kunsthochschulen zu etablieren beginnen.


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